Am Röntgenlaser European XFEL hat jetzt ein internationales Wissenschaftsteam erstmals einen Schnappschuss eines ringförmigen Moleküls mit einer neuartigen Messmethode gemacht. Forscherinnen und Forscher vom European XFEL, DESY, der Universität Hamburg und der Goethe-Universität Frankfurt nutzten zusammen mit weiteren Partnern den weltgrößten Röntgenlaser dazu, das Molekül Iodpyridin zu zerschlagen, um aus den entstandenen Bruchstücken das Bild des intakten Moleküls zusammenzusetzen.
Das Fotomotiv zur Explosion bringen, um ein Bild davon zu machen?
Diese „rabiate“ Methode hat ein internationales Forschungsteam am
weltgrößten Röntgenlaser European XFEL zum Ablichten größerer Moleküle
benutzt. Mit Hilfe ultraheller Röntgenblitze konnten die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Bilder des Moleküls Iodpyridin
in der Gasphase mit atomarer Auflösung aufnehmen. Bei dem Verfahren
werden die Moleküle durch den Röntgenlaser zur Explosion gebracht, und
aus den Trümmern wird das Bild rekonstruiert. „Dank der extrem
intensiven und besonders kurzen Röntgenpulse des European XFEL konnten
wir ein für diese Methode und Molekülgröße beispiellos klares Bild
erzeugen“, berichtet Rebecca Boll von European XFEL, Initiatorin des
Experiments und eine der beiden Erstautorinnen der Veröffentlichung, in
der das Team seine Ergebnisse im Fachblatt „Nature Physics“ beschreibt.
Solche deutlichen Abbildungen von größeren Molekülen waren mit der
verwendeten Technik bislang nicht möglich.
Die Aufnahmen sind ein
wichtiger Schritt hin zu Molekül-Filmen, mit denen Forschende in
Zukunft mit hoher Auflösung Details von biochemischen, chemischen und
physikalischen Reaktionen beobachten möchten. Von solchen Filmen werden
neue Anstöße für Entwicklungen in verschiedenen Forschungsgebieten
erwartet. „Die von uns verwendete Methode ist insbesondere zur
Untersuchung photochemischer Prozesse interessant“, erklärt Till Jahnke,
European XFEL und Goethe-Universität Frankfurt, der ebenfalls zum
Kernteam der Untersuchung zählt.
Solche Vorgänge, bei denen
chemische Reaktionen durch Licht ausgelöst werden, sind sowohl im Labor
als auch in der Natur von großer Bedeutung, beispielsweise bei der
Photosynthese oder beim Sehprozess im Auge. „Die Entwicklung solcher
Filme ist zunächst Grundlagenforschung, aber die damit gewonnenen
Erkenntnisse könnten in der Zukunft dazu beitragen, solche Prozesse
besser zu verstehen und neue Ideen für die Medizin, nachhaltige
Energiegewinnung oder Materialforschung zu entwickeln“, hofft Jahnke.
Bei
der als Coulomb Explosion Imaging bezeichneten Methode schlägt ein
hochintensiver und ultrakurzer Röntgenlaserpuls aus den Atomen des
Moleküls zahlreiche Elektronen heraus. Zurück bleiben elektrisch positiv
geladene Atome, die sich gegenseitig abstoßen. Durch die starke
elektrostatische Abstoßung explodiert das Molekül innerhalb von wenigen
Femtosekunden – das sind Millionstel einer Milliardstel Sekunde. Die
einzelnen Atome fliegen auseinander und werden von einem Detektor
registriert.
Die Technik soll Momentaufnahmen sehr schneller
Prozesse ermöglichen. „Bislang war diese Methode allerdings begrenzt auf
kleine Moleküle, die aus nicht mehr als fünf Atomen bestehen“,
erläutert Julia Schäfer vom Center for Free-Electron Laser Science
(CFEL) bei DESY, die andere Erstautorin der Studie. „Mit unserer Arbeit
haben wir diese Grenze beim Coulomb Explosion Imaging durchbrochen.“
Iodpyridin (C5H4IN) ist ein Molekül aus elf Atomen.
Aufnahmestudio
für die explosiven Molekülbilder ist die Experimentierstation SQS
(Small Quantum Systems) am European XFEL. Hier lenken elektrische Felder
in einem speziell für solche Untersuchungen entwickelten
COLTRIMS-Reaktionsmikroskop die Molekültrümmer auf einen Detektor. Das
an der Goethe-Universität entwickelte Reaktionsmikroskop misst
Einschlagort und Einschlagszeitpunkt der Bruchstücke auf dem Detektor
und rekonstruiert daraus ihren Impuls – das Produkt aus Masse und
Geschwindigkeit, sozusagen die „Wucht“, mit der sie auf den Detektor
treffen. „Aus dieser Information lassen sich Details über das Molekül
gewinnen und mit Hilfe von Modellen der Ablauf von Reaktionen und
Vorgängen rekonstruieren“, sagt DESY-Forscher Robin Santra, der den
theoretischen Teil der Arbeit geleitet hat.
Das Coulombexplosion
Imaging eignet sich insbesondere auch dazu, sehr leichte Atome wie
Wasserstoff in chemischen Reaktionen genau zu verfolgen. Die Technik
ermöglicht detaillierte Untersuchungen einzelner Moleküle speziell in
der Gasphase und ist damit eine weitere Methode zur Herstellung von
Molekülfilmen, wie sie am European XFEL auch an anderen
Experimentierstationen entwickelt werden, beispielsweise an
Flüssigkeiten.
„Wir wollen fundamentale photochemische Prozesse im
Detail verstehen. In der Gasphase gibt es keine Störungen durch andere
Moleküle oder die Umgebung. Wir können daher mit unserer Technik
einzelne, isolierte Moleküle untersuchen“, sagt Jahnke. Und Boll
ergänzt: „Wir arbeiten bereits daran, im nächsten Schritt
Reaktionsabläufe zu untersuchen und die Einzelbilder zu einem echten
Molekülfilm zusammenzufügen. Die ersten Versuche dazu haben wir bereits
unternommen.“
An der Arbeit waren Forscherinnen und Forscher der
Universität Hamburg, der Goethe-Universität Frankfurt, der Universität
Kassel, der Jiao-Tong-Universität in Shanghai, der Kansas State
University, der Max-Planck-Institute für medizinische Forschung und für
Kernphysik, des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft, des
US-Beschleunigerzentrums SLAC, des Hamburger Exzellenzclusters CUI:
Advanced Imaging of Matter, des Center for Free-Electron Laser Science
bei DESY, von DESY und von European XFEL beteiligt.
European XFEL
ist eine internationale Forschungsanlage der Superlative in der
Metropolregion Hamburg: 27°000 Röntgenlaserblitze pro Sekunde und eine
Leuchtstärke, die milliardenfach höher ist als die besten
Röntgenstrahlungsquellen herkömmlicher Art, werden völlig neue
Forschungsmöglichkeiten eröffnen. Forschergruppen aus aller Welt können
an dem europäischen Röntgenlaser atomare Details von Viren und Zellen
entschlüsseln, dreidimensionale Aufnahmen im Nanokosmos machen,
chemische Reaktionen filmen und Vorgänge wie die im Inneren von Planeten
untersuchen. European XFEL ist eine gemeinnützige
Forschungsorganisation, die eng mit dem Forschungszentrum DESY und
weiteren internationalen Institutionen zusammenarbeitet. Sie beschäftigt
mehr als 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, im September 2017 hat
die Anlage den Nutzerbetrieb aufgenommen. Derzeit beteiligen sich zwölf
Länder: Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Russland,
Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Spanien, Ungarn und das vereinigte
Königreich. Deutschland (Bundesministerium für Bildung und Forschung
sowie die Länder Hamburg und Schleswig-Holstein) trägt 58 Prozent der
Kosten für die neue Einrichtung, Russland 27 Prozent. Die anderen
Partnerländer sind mit ein bis drei Prozent beteiligt. Mehr
Informationen unter www.xfel.eu/de.
Den Artikel finden Sie unter:
https://www.xfel.eu/aktuelles/news/index_ger.html?openDirectAnchor=1945&two_columns=0
Quelle: European XFEL GmbH (02/2022)
Publikation:
https://www.nature.com/articles/s41567-022-01507-0