Mittwoch, den 23. Februar 2022 um 04:29 Uhr

Molekül-Schnappschuss durch Explosion

Am Röntgenlaser European XFEL hat jetzt ein internationales Wissenschaftsteam erstmals einen Schnappschuss eines ringförmigen Moleküls mit einer neuartigen Messmethode gemacht. Forscherinnen und Forscher vom European XFEL, DESY, der Universität Hamburg und der Goethe-Universität Frankfurt nutzten zusammen mit weiteren Partnern den weltgrößten Röntgenlaser dazu, das Molekül Iodpyridin zu zerschlagen, um aus den entstandenen Bruchstücken das Bild des intakten Moleküls zusammenzusetzen.

Das Fotomotiv zur Explosion bringen, um ein Bild davon zu machen? Diese „rabiate“ Methode hat ein internationales Forschungsteam am weltgrößten Röntgenlaser European XFEL zum Ablichten größerer Moleküle benutzt. Mit Hilfe ultraheller Röntgenblitze konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Bilder des Moleküls Iodpyridin in der Gasphase mit atomarer Auflösung aufnehmen. Bei dem Verfahren werden die Moleküle durch den Röntgenlaser zur Explosion gebracht, und aus den Trümmern wird das Bild rekonstruiert. „Dank der extrem intensiven und besonders kurzen Röntgenpulse des European XFEL konnten wir ein für diese Methode und Molekülgröße beispiellos klares Bild erzeugen“, berichtet Rebecca Boll von European XFEL, Initiatorin des Experiments und eine der beiden Erstautorinnen der Veröffentlichung, in der das Team seine Ergebnisse im Fachblatt „Nature Physics“ beschreibt. Solche deutlichen Abbildungen von größeren Molekülen waren mit der verwendeten Technik bislang nicht möglich.

Die Aufnahmen sind ein wichtiger Schritt hin zu Molekül-Filmen, mit denen Forschende in Zukunft mit hoher Auflösung Details von biochemischen, chemischen und physikalischen Reaktionen beobachten möchten. Von solchen Filmen werden neue Anstöße für Entwicklungen in verschiedenen Forschungsgebieten erwartet. „Die von uns verwendete Methode ist insbesondere zur Untersuchung photochemischer Prozesse interessant“, erklärt Till Jahnke, European XFEL und Goethe-Universität Frankfurt, der ebenfalls zum Kernteam der Untersuchung zählt.

Solche Vorgänge, bei denen chemische Reaktionen durch Licht ausgelöst werden, sind sowohl im Labor als auch in der Natur von großer Bedeutung, beispielsweise bei der Photosynthese oder beim Sehprozess im Auge. „Die Entwicklung solcher Filme ist zunächst Grundlagenforschung, aber die damit gewonnenen Erkenntnisse könnten in der Zukunft dazu beitragen, solche Prozesse besser zu verstehen und neue Ideen für die Medizin, nachhaltige Energiegewinnung oder Materialforschung zu entwickeln“, hofft Jahnke.

Bei der als Coulomb Explosion Imaging bezeichneten Methode schlägt ein hochintensiver und ultrakurzer Röntgenlaserpuls aus den Atomen des Moleküls zahlreiche Elektronen heraus. Zurück bleiben elektrisch positiv geladene Atome, die sich gegenseitig abstoßen. Durch die starke elektrostatische Abstoßung explodiert das Molekül innerhalb von wenigen Femtosekunden – das sind Millionstel einer Milliardstel Sekunde. Die einzelnen Atome fliegen auseinander und werden von einem Detektor registriert.

Die Technik soll Momentaufnahmen sehr schneller Prozesse ermöglichen. „Bislang war diese Methode allerdings begrenzt auf kleine Moleküle, die aus nicht mehr als fünf Atomen bestehen“, erläutert Julia Schäfer vom Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) bei DESY, die andere Erstautorin der Studie. „Mit unserer Arbeit haben wir diese Grenze beim Coulomb Explosion Imaging durchbrochen.“ Iodpyridin (C5H4IN) ist ein Molekül aus elf Atomen.

Aufnahmestudio für die explosiven Molekülbilder ist die Experimentierstation SQS (Small Quantum Systems) am European XFEL. Hier lenken elektrische Felder in einem speziell für solche Untersuchungen entwickelten COLTRIMS-Reaktionsmikroskop die Molekültrümmer auf einen Detektor. Das an der Goethe-Universität entwickelte Reaktionsmikroskop misst Einschlagort und Einschlagszeitpunkt der Bruchstücke auf dem Detektor und rekonstruiert daraus ihren Impuls – das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit, sozusagen die „Wucht“, mit der sie auf den Detektor treffen. „Aus dieser Information lassen sich Details über das Molekül gewinnen und mit Hilfe von Modellen der Ablauf von Reaktionen und Vorgängen rekonstruieren“, sagt DESY-Forscher Robin Santra, der den theoretischen Teil der Arbeit geleitet hat.

Das Coulombexplosion Imaging eignet sich insbesondere auch dazu, sehr leichte Atome wie Wasserstoff in chemischen Reaktionen genau zu verfolgen. Die Technik ermöglicht detaillierte Untersuchungen einzelner Moleküle speziell in der Gasphase und ist damit eine weitere Methode zur Herstellung von Molekülfilmen, wie sie am European XFEL auch an anderen Experimentierstationen entwickelt werden, beispielsweise an Flüssigkeiten.
„Wir wollen fundamentale photochemische Prozesse im Detail verstehen. In der Gasphase gibt es keine Störungen durch andere Moleküle oder die Umgebung. Wir können daher mit unserer Technik einzelne, isolierte Moleküle untersuchen“, sagt Jahnke. Und Boll ergänzt: „Wir arbeiten bereits daran, im nächsten Schritt Reaktionsabläufe zu untersuchen und die Einzelbilder zu einem echten Molekülfilm zusammenzufügen. Die ersten Versuche dazu haben wir bereits unternommen.“

An der Arbeit waren Forscherinnen und Forscher der Universität Hamburg, der Goethe-Universität Frankfurt, der Universität Kassel, der Jiao-Tong-Universität in Shanghai, der Kansas State University, der Max-Planck-Institute für medizinische Forschung und für Kernphysik, des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft, des US-Beschleunigerzentrums SLAC, des Hamburger Exzellenzclusters CUI: Advanced Imaging of Matter, des Center for Free-Electron Laser Science bei DESY, von DESY und von European XFEL beteiligt.

European XFEL ist eine internationale Forschungsanlage der Superlative in der Metropolregion Hamburg: 27°000 Röntgenlaserblitze pro Sekunde und eine Leuchtstärke, die milliardenfach höher ist als die besten Röntgenstrahlungsquellen herkömmlicher Art, werden völlig neue Forschungsmöglichkeiten eröffnen. Forschergruppen aus aller Welt können an dem europäischen Röntgenlaser atomare Details von Viren und Zellen entschlüsseln, dreidimensionale Aufnahmen im Nanokosmos machen, chemische Reaktionen filmen und Vorgänge wie die im Inneren von Planeten untersuchen. European XFEL ist eine gemeinnützige Forschungsorganisation, die eng mit dem Forschungszentrum DESY und weiteren internationalen Institutionen zusammenarbeitet. Sie beschäftigt mehr als 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, im September 2017 hat die Anlage den Nutzerbetrieb aufgenommen. Derzeit beteiligen sich zwölf Länder: Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Russland, Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Spanien, Ungarn und das vereinigte Königreich. Deutschland (Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie die Länder Hamburg und Schleswig-Holstein) trägt 58 Prozent der Kosten für die neue Einrichtung, Russland 27 Prozent. Die anderen Partnerländer sind mit ein bis drei Prozent beteiligt. Mehr Informationen unter www.xfel.eu/de.


Den Artikel finden Sie unter:

https://www.xfel.eu/aktuelles/news/index_ger.html?openDirectAnchor=1945&two_columns=0

Quelle: European XFEL GmbH (02/2022)


Publikation:
https://www.nature.com/articles/s41567-022-01507-0

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.
Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.