Donnerstag, den 17. Juni 2021 um 04:06 Uhr

Genome aus ihren Puzzleteilen wieder zusammensetzen

Ein Forscherteam des Friedrich-Miescher-Labors für biologische Arbeitsgruppen hat eine neue Methode zur DNA-Sequenzierung entwickelt, die schnelles und effizientes Aufspüren von genetischer Information ermöglicht. Ihr neues Verfahren mit dem Namen Haplotagging erlaubt es Forschenden, schnell und präzise Genomdaten rückzuverfolgen und abzugleichen. Haplotagging liefert reichhaltige Information über Genome und erleichtert die genaue Bestimmung unserer genetischen Struktur. Das ermöglicht schnelle genetische Analysen menschlicher Populationen oder deckt bis dato unerwartete Artvermischungen in der Natur auf. Die Forschungsergebnisse erscheinen nun in PNAS und Nature Genetics.

Man stelle sich eine Bildergalerie mit den atemberaubendsten Bildern von Menschen und Wildtieren vor. Begeistert sucht man sich einen Favoriten aus und bestellt einen Abzug. Mit Ungeduld wartet man auf die Lieferung der Kopie; nur um festzustellen, dass der Abzug in geschredderten Stücken und ohne Anleitung zum Zusammensetzen geliefert wird. Die gegenwärtigen Methoden der Genomsequenzierung haben ähnliche Nachteile: Die Genomsequenz zu lesen ist vergleichbar mit dem Lesen eines Buchs, dessen Seiten herausgerissen und zerfetzt wurden – die einzelnen Wörter sind zwar erhalten, aber durcheinander und fragmentiert – eine fehleranfällige und unbefriedigende Situation.
Dies ist die Situation, mit der die heutigen Genforscher konfrontiert sind: Forschende müssen das große Ganze mühsam zusammensetzen, in diesem Fall die DNA-Sequenz eines Genoms. Quantität wird der Vorzug vor Kontext gegeben: Das bedeutet, dass man zwar ganze Genome von Personen oder Pathogenen an einem einzigen Tag sequenzieren kann, das Resultat aber aus Millionen kurzer Sequenzen besteht – sozusagen wie ein Genompuzzle. „Bestenfalls macht das die Sache komplizierter. Schlimmstenfalls laufen wir Gefahr, lebensbedrohliche Krankheiten oder schwerwiegende Mutationen zu übersehen, da wichtige Informationen wie beispielsweise umgeordnete Chromosomen verloren gehen können, wenn wir das Genom für die Sequenzierung zerlegen. Und wenn wir nicht wieder zusammensetzen, was wir auseinandergebrochen haben, verlieren wir die Perspektive aufs große Ganze“, kommentiert Frank Chan, Gruppenleiter am Friedrich-Miescher-Laboratorium.

Wenn DNA-Stränge wie Spaghetti entwirrt werden

An diesem Punkt hat die Forschergruppe vom Max-Planck-Campus in Tübingen angesetzt und eine neuartige DNA-Sequenzierungsmethode namens Haplotagging entwickelt. „Mit diesem neuen Verfahren wird die Konfiguration der DNA gekennzeichnet und erhalten, bevor die DNA zur Sequenzierung zerlegt wird. Das ist vergleichbar damit, die Rückseiten von Puzzlestücken zu nummerieren, bevor man das Puzzle auseinandernimmt. Das Verfahren kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden, da es einen wesentlichen Schwachpunkt der gegenwärtig vorherrschenden Sequenzierungstechnologien angeht“, erklärt Chan.
Im Labor geschieht das durch Vermengen der DNA mit mikroskopisch kleinen Perlen. Jede Perle trägt Enzyme, die einen DNA-Strang herausgreifen – ähnlich wie man eine einzelne Nudel aus einem Teller Spaghetti herausfischt, indem man sie um die Gabel wickelt – und an ihm in regelmäßigen Abständen einen einzigartigen Barcode anbringt. Nachdem die DNA auseinandergebrochen wurde, kann man mithilfe dieses Barcodes feststellen, woher die einzelnen Stücke stammen. Auf diese Art erlaubt das Verfahren, genetische Studien zu reduzierten Kosten ohne Beeinträchtigung der Qualität in größerem Maßstab durchzuführen. „Haplotagging löst teilweise das ein, was man sich ursprünglich von DNA-Sequenzierung versprochen hat”, ergänzt Chan.

Schmetterlinge mit einer Zielscheibe auf den Flügeln

Um die Leistungsfähigkeit ihrer neuen Sequenziertechnik zu demonstrieren, hat sich die Tübinger Gruppe mit Forschern der Universität Cambridge zusammengetan, die zwei Schmetterlingsarten der Gattung Heliconius in Ecuador nahe den Ausläufern der Anden untersucht haben. Aufgrund ihrer einzigartigen Ernährung können diese Schmetterlinge für Vögel, die ihre Fressfeinde sind, ungenießbar sein.Sie tragen auffällige farbige Muster, die interessierte Vögel abschrecken. Mit der Zeit haben sich die zwei Schmetterlingsarten evolutionär aneinander angeglichen und imitieren sich gegenseitig: Schmetterlinge beider Arten aus dem Tiefland haben auffällige, strahlenartige rote Streifen und ein einziges gelbes Band, während Schmetterlinge aus dem Hochland unabhängig von der Artzugehörigkeit zwei gelbe Bänder vor dem Hintergrund schwarzer Flügel zeigen.
Und natürlich lernen die Vögel dazu und greifen anstelle der häufigen die selteneren, vermeintlich wohlschmeckenden Schmetterlinge heraus. Daher ist es für die Schmetterlinge gefährlich, Hybridnachwuchs mit dem falschen Partner zu zeugen: Ein gemischtes Flügelmuster macht ihn zur offensichtlichen Beute der Vögel. Dementsprechend waren die Forschenden höchst überrascht, als sie eine neue hybride Form von Schmetterlingen in der Hybridzone fanden, die außer dem Doppelband aus dem Hochland auch die Streifen des Tieflands trugen. Mithilfe von Haplotagging konnten Chan und sein Team die Genome sequenzieren und fanden heraus, dass die Ausbreitung eines einzigen Gens namens WntA vom Hochland ins Tiefland für die Entstehung eines in der Farbgebung völlig neuen Schmetterlings verantwortlich war, die auf Grund ihrer Häufigkeit lästige Fressfeinde auf Abstand hält.

Schneller genetischer Abgleich

Der Nutzen von Haplotagging beschränkt sich nicht allein auf die Erforschung von Biodiversität. Chans Forschergruppe verwendete das Verfahren auch, um ihre Kollaborationspartnern in Oxford bei der Entwicklung einer neuen Methode zur schnellen Identifikation von Genvarianten zu unterstützen. Das sogenannte QUILT-Verfahren funktioniert ähnlich wie automatische Textvorschläge, die angefangene Sätze beim Tippen auf dem Smartphone ergänzen. Dadurch, dass Haplotagging den weiteren Kontext bewahrt, unterstützt es QUILT dabei, verschiedene Informationsbruchstücke zu verbinden und versprengte DNA-Fragmente korrekt zu identifizieren.
„Wir konnten zeigen, dass QUILT in Verbindung mit Haplotagging-Daten besser als andere Sequenzierungsplattformen abschneidet. Haplotagging und QUILT bieten sich eventuell für eine riesige Bandbreite großer Populationsgenomstudien an“, bekräftigt Chan.

Doch die Bedeutung von Haplotagging wird auch außerhalb von Universitäten und Forschungszentren spürbar werden: „Dies wird die derzeitige Konsumgenetik-Industrie auf den Kopf stellen“, sagt Chan voraus. Sogenannte Direct-to-Consumer-Unternehmen wie 23andMe oder Ancestry verkaufen DNA-Testsets an Privatverbraucher, die sie mit der Aussicht locken, gesundheitliche Risiken aufzudecken oder lang vermisste Angehörige wiederzufinden. Dieser robuste Markt hat allein in den USA einen Jahresumsatz von einer Milliarde US-Dollar bereits überschritten. Die ökonomische Landschaft dieses Sektors könnte sich mit dem Aufkommen der schnellen, kostengünstigen und genauen Sequenzierungsmethode dramatisch ändern. Letztlich wollen Chan und sein Team Biologinnen und Biologen das Leben leichter machen: „Wir hoffen, dass wir in Zukunft weniger Zeit damit verbringen werden, angestrengt nach Einzelteilen im DNA-Puzzle zu suchen, sondern stattdessen uns zurücklehnen und die Schönheit des Lebens und der Artenvielfalt bewundern können.“


Den Artikel finden Sie unter:

https://www.eb.tuebingen.mpg.de/de/artikel/haplotagging0/

Quelle: Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie (06/2021)


Publikation:
Meier, J.I.*, Salazar, P.A.*, Kučka, M.*, Davies, R.W., Dréau, A., Aldás, I., Box-Power, O., Nadeau, N., Bridle, J.R., Rolian, C.P., Barton, N.H., McMillan, W.O., Jiggins, C.D.†, Chan, Y.F.†:
Haplotype tagging reveals parallel formation of hybrid races in two butterfly species. (* co-first authors; † co-last authors). PNAS, 2021. doi: 10.1073/pnas.2015005118

Davies, R.W, Kučka, M., Su, D., Shi, S., Flanagan, M., Cunniff, C.M., Chan, Y.F.*, Myers, S.*:
Rapid genotype imputation from sequence with reference panels. (* co-last authors). Nature Genetics, 2021. doi: 10.1038/s41588-021-00877-0

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